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Dänemark: Schweißgebadet beim Roskilde 2009

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Default profile picture Hildegard Schneider

Kultur

Ich war schon oft beim Roskilde. Normalerweise schwänze ich die meisten Konzerte und lasse mich in der unwirklichen Realität treiben, die auf magische Weise entsteht, wenn man Leute auf ein Feld lässt und ihnen sagt, sie können tun und lassen was sie wollen. Dieses Mal habe ich aber doch ein paar Konzerte gesehen.

Jedes Jahr in der ersten Juliwoche wird Dänemark auf den Kopf gestellt. Leute jeden Alters und aus allen Teilen des Landes packen ihre Sachen und machen sich auf den Weg zu einem Feld vor den Toren der Kleinstadt Roskilde, um Skandinaviens größte kulturelle Veranstaltung zu feiern. Die Völkerwanderung erhöht die Einwohnerzahl von Roskilde auf das Dreifache, und macht es für die Dauer des europäischen Openair-Musikfestivals zu Dänemarks viertgrößter Stadt. 

©Nanna Kreutzmann/ roskilde-festival.dkDas Roskilde steht europaweit an vierter Stelle, gleich nach dem Rock Werchter (belgisches Musikfestival in der Kleinstadt Werchter), dem Sziget (Musikfestival, das jährlich im Sommer auf einer Donauinsel in der ungarischen Hauptstadt Budapest stattfindet) und dem Glastonbury (Musikfestival in der englischen Kleinstadt Glastonbury in Somerset, England). Etwa ein Drittel der Gäste kommen von außerhalb Dänemarks, die Mehrheit kommt aus Norwegen und Schweden. Deutschland, Großbritannien und die Niederlande sind ebenfalls stark vertreten.

Trentemøller - der großartige Däne?

In der Eröffnungsnacht spielt Trentemøller [Anders Trentemøller , dänischer Techno- und Houseproduzent; A.d.R.] auf der Hauptbühne des Festivals, der legendären ‘Orange Stage’, mit einer Kapazität von über 60.000 Leuten. Seine Show ist gut. Zumindest scheint sie den typischen Rock und Pop liebenden Roskilde-Besuchern zu gefallen. Alle Dänen, die Festivalbesucher inklusive, scheinen zu glauben, dass der Elektro-Musiker in seinem Bereich der berühmteste auf der Welt sei. Mir ist es immer etwas peinlich, wenn ich Dänen über die Größe von dänischen Personen oder deren Erfolg sprechen höre. Der Medienrummel vor dem Konzert war so heftig, dass ich ehrlich gesagt glaube, mir hätte die ganze Sache besser gefallen, wenn er aus einem anderen Land käme. 

Abgesehen von Musik ist das beliebteste Gesprächsthema auf allen Festivalsplätzen natürlich das Wetter. Dieses Jahr hatte Roskilde das Glück, blauen Himmel und keinen Regen zu haben. Klingt gut, sollte man denken, aber dem war nicht wirklich so. Zu versuchen, in einem Zelt zu schlafen (oder sich einfach nur in einem Zelt aufzuhalten), während es draußen 30 Grad heiß ist, ist reine Folter. Und weil Alkohol bei mir leider dazu führt, für immer wach bleiben zu wollen, schaffe ich es nie früh genug ins Bett, um mehr als zwei Stunden Schlaf zu kriegen, bevor mich die Sonne wieder aus dem Bett treibt. 

©Julien Decrey

Die Stunden um die Mittagszeit bestehen vor allem aus der Suche nach Schattenplätzen. Samstagmorgen verbringen wir im Chill-out Bereich. ‘Die Lounge’ ist ein riesiges, stallähnliches Gebäude, dessen Boden mit Sand bedeckt ist und in dem neunziger Jahre Chill Popmusik mit mediterranem Ambiente spielt (sie spielen sogar ‘He’s on the phone’ [1995 von Saint Etienne; A.d.R.] und die 1970-er Version von ‘Suicide is painless’! [Titelsong der Fernsehserie M*A*S*H, etwa: ‘Selbstmord tut nicht weh’; A.d.R.). Während ich halbwach im kühlen Schatten liege, wird mir klar, dass ich trotz starkem Schwitzen, extremem Kater, Schlafmangel und dem Geschmack von rohen Zwiebeln von dem Sandwichzwischenfall Freitagabend zur richtigen Zeit am richtigen Ort mit den richtigen Leuten bin. Glück kommt dann, wenn man es am wenigsten erwartet.

Pet Shop Boys

Beim Roskilde geht es nicht so sehr um den straffen Konzertzeitplan. Sowohl die Camping- als auch die Festivalbereiche sind voll genug von Wahnsinn, Spielen, Kreativität und belangloser Politik, um einen rund um die Uhr auf Trab zu halten. Sich unter der Schneekanone abkühlen, sein Handy durch Treten von maßgefertigten Fahrrädern aufladen, Klimavorträgen zuhören, an kostenlosem Sexualkundeunterricht teilnehmen, Inlineskaten, Klettern, Schwimmen, Angeln, in einer virtuellen Realität spielen, die ganze Nacht auf ‘Untergrundpartys’ durchfeiern, eine Ganzkörperbürstenreinigung (oder ein Ganzkörperpeeling von knapp bekleideten Models in einer ‘menschlichen Autowaschanlage’) erhalten ...: Bei dieser Ganztagsbespielung bleibt kaum Zeit für Konzerte.

Ein Konzert, das ich aber nicht verpassen wollte, war das der Hauptgruppe am Samstagabend: die Pet Shop Boys. Ihre Show war phänomenal - die Reinheit und Perfektion ihrer Ästhetik lässt mich sogar vergessen, dass ich nach Urin stinkenden Staub einatme. Der einzige mentale Wermutstropfen, während sie in fröhlichen Erinnerungen schwelgen, ist, dass sie beginnen ein bisschen so aussehen wie eines der grellen Paare in den Büchern von Truman Capote. Das lässt nicht nur ihren Bandnamen etwas mitleiderregend klingen, sondern lässt mich zwangsläufig auch denken, dass, wenn Neil Tennant beginnt alt auszusehen, etwas Schönes in uns allen zu Ende gegangen ist.

Vierzig Jahre später: Daumen hoch!

©Thomas KjaerDas Roskilde ist vielleicht nicht unbedingt das größte, wildeste oder originellste Festival in Europa, aber ich bezweifle, dass man ein anderes, größeres Festival mit einer so gut durchdachten Infrastruktur findet. Nach dem logistischen Horror vom ‘Fusion Festival’, das nur eine Woche vorher in Deutschland stattfand, nach Hause nach Berlin zu kommen, bin ich positiv überrascht zu sehen, dass der Zug, in den ich bei der Roskilder Festivalhaltestelle einsteige, mich in weniger als einer Stunde direkt zum Hauptbahnhof in Kopenhagen fährt.

Nachdem das Festival bereits seit fast 40 Jahren existiert, kann es nun nicht nur damit angeben, dass es seine eigene Zughaltestelle, sondern auch seine eigene Radiostation, Zeitung, Inlineskatepark, Kino, Stausee, Bäckerei, Riesenrad, Handynetz und sogar einen Supermarkt vor Ort hat - alles kann mit Kreditkarte bezahlt werden, von der Bio-Linsensuppe bis zur Kubanischen Zigarre in der Whiskybar.

Der Unfall im Jahr 2000, bei dem 9 junge Männer auf tragische Weise bei einem Pearl Jam Konzert ums Leben kamen, hat zu massiven Investitionen in Schutz und Sicherheit geführt. Das Festival ist nun so sicher wie ein schwedischer Kinderspielplatz. Aus diesem Grund ist das Roskilde nicht nur die größte kulturelle Veranstaltung in Skandinavien - sondern auch eine dionysische Miniversion der modernen skandinavischen Sozialstaaten, in denen Gott Trost bedeutet und Sicherheit alles andere übertrumpft. Der einzige Unterschied ist, dass beim Roskilde-Festival jeder willkommen ist.

Translated from Roskilde festival '09, dionysian mini-version of modern Scandinavian welfare states