
Bijay Dantani: Mein Freak Street-Leben
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Kathmandu ist wunderschön, aber wie lebt es sich in der Freak Street? Bijay Dantani, dessen Familie aus Gujarat in die Hauptstadt Nepals gezogen ist, kennt jeden Winkel der Altstadt. Zwischen Chai Shop, Schneiderei und Motorrädern ist das Leben für einen jungen Mann nicht immer leicht, aber dafür überraschend poetisch. Ein Tag in Tempeln, Gassen und Kinosälen.
Frühlingstage in der Freak Street sind kurz. Wenn abends gegen zehn die Gehsteige hochgeklappt werden, streichen nur noch Katzen um die bröckelnden Steinbauten mit ihren kunstvoll geschnitzten Holzgiebeln. Morgens gegen sieben hingegen muss man länger suchen, um einen geöffneten Chai Shop zu finden. Außerdem fällt morgens und abends oft der Strom aus – und dazwischen noch viel häufiger. Während ich dampfend süßen Tee schlürfe und auf Bijay warte, beginnen die Ladenbesitzer, ihre Türen zu öffnen. Zwischen glitzernden Kissenhüllen im Stile Rajasthans, nepalesischen Geldbeuteln und bunten Accessoires für Marihuana-Adepten verstaubt auch die ein oder andere Shivastatue. Erlaubt ist, was westlichen Touristen gefällt, die gerne in dieser verwinkelten Straße in der Altstadt von Kathmandu absteigen. Früher war die Freak Street eine feste Station auf dem Opiumpfad der Hippies und Aussteiger, aber heute geht alles einen sehr geordneten Gang.
„Wollen wir nicht noch einen Chai trinken?“ Als ich nicht mehr mit ihm gerechnet hatte, kommt Bijay schließlich doch angeschlendert, setzt sich auf einen Plastikhocker und bestellt Tee. Ein Tag in der Freak Street fängt langsam an. „Eigentlich kommt meine Familie aus Gujarat, aus Santhal. Das ist in der Nähe von Ahmedabad“, erzählt Bijay. Mittlerweile wohnen er, seine Eltern und seine sechs Geschwister mit ihren Familien aber schon viele Jahre in Nepal. Sein Vater hat hier einen kleinen Laden, in dem er Tücher, Taschen und anderen Krimskrams an Touristinnen verkauft. „Das ist so ein pseudo-rajasthanischer Stil, den mögen Ausländer immer gerne.“ Bijay lacht. Er selbst macht eine Schneiderlehre, während der er monatlich 6000 nepalesische Rupien (umgerechnet 44 Euro) verdient. Das war nicht unbedingt seine erste Wahl, aber er ist froh, dass er einen Platz gefunden hat. Was tut man eigentlich alles für seine Familie?
Bevor er meine Frage beantworten kann, duckt sich Bijay durch ein schmales, ebenerdiges Fenster, hinter dem ein dunkler Gang liegt. Als wir am anderen Ende aus der Finsternis klettern, liegt vor uns ein kleiner Innenhof, in dem ein hinduistischer Pagodentempel steht. „Diese Dachstruktur haben sich die Newar, die Ureinwohner des Kathmandu-Tals, ausgedacht, und dann bis nach China exportiert.“ Während ein alternder Priester mit einem Öllämpchen um den Tempel marschiert und die Puja (ein hinduistisches Gebetsritual) zelebriert, sitzen wir auf einer Seitenbank und lutschen klebriges Zitronennusseis. Als es anfängt zu nieseln, meint Bijay, dass er eigentlich nicht so religiös sei und jetzt lieber ins Kino ginge.
Im großen Cineplex gleich um die Ecke sind gegen Mittag die meisten Plätze leer. Unterwegs haben wir Bijays Schwestern Poonam und Rajani aufgegabelt, die mit uns den Actionthriller Aurangzeb (2013) des indischen Bollywood-Stars Arjun Kapoor anschauen wollen. Die Mädchen kichern und krallen sich aneinander fest, als wir auf der Rolltreppe in den zweiten Stock fahren: Rollende Transportbänder und große Kinosäle sind Neuland für sie. Während Kapoor in einer modernen Adaption der Geschichte des Großmoguls Aurangzeb (1618-1707) in schicken Autos durch Gurgaon heizt und korrupte Polizisten zur Strecke bringt, lachen Bijays Schwestern selbst bei blutigen Showdowns und rascheln laut mit ihren Popcorntüten. „Haha, so ein Schwachsinn!“ Bijay amüsiert sich, auch wenn er Bollywood-Filme eigentlich gar nicht so mag. Er klingt oft wie ein kleiner Misanthrop, doch eigentlich ist er einfach nur ernst. „So bin ich eben. Dieses ganze oberflächliche Gehabe in der Freak Street ist mir oft zu viel.“
Als wir wieder durch verwinkelte Seitengassen ziehen, erklärt mir Bijay seine Familienverhältnisse. Während viele europäische Sprachen keinen Unterschied zwischen Verwandten mütterlicher- oder väterlicherseits machen, sind solche Unterscheidungen in vielen indischen Sprachen fundamental. Schließlich sind die Familienbande hier in den meisten Fällen schon aufgrund der Lebensumstände viel enger: „Wir wohnen alle zusammen in einem Zimmer, auch wenn wir zu neunt sind und es nie genug Platz gibt.“ Als ich Bijay frage, ob er sich denn nicht nach mehr Privatsphäre, nach seinem eigenen Zimmer sehne, schaut er mich entgeistert an: „Ich glaube, dann würde ich mich einsam fühlen.“
Pagodentempel, chai und Familienbande
Viel Privatsphäre gibt es in Kathmandu auch sonst kaum. Bei knapp 976.000 Einwohnern sind die Straßen der Altstadt permanent von Autos, Fußgängern und Motorradfahrern verstopft. Besonders die knatternden Blechkisten sind Bijay ein Dorn im Auge. Langsam quälen wir uns durch den Stau und gelangen schließlich in ein weniger pittoreskes Stadtviertel, in dem Bijays Schneiderladen liegt. Direkt daneben erhebt sich ein rotweißer Tempel unter einem Bodhibaum. Am Horizont färbt sich der Himmel zartlila, als die Gebetsglocken die Puja einzuläuten beginnen. Gestört wird die Idylle nur durch den üblen Geruch von Moder, Tod und kalter Asche. Bijay deutet auf die Müllkippe auf der anderen Seite des Flusses: „An schlimmen Tagen stinkt es hier ganz fürchterlich.“ Auf dem Weg zurück in die Freak Street machen wir vor einem kleinen Laden halt, bestellen Chai und rauchen eine Zigarette. Wie genau es mit ihm weiter gehen soll, weiß Bijay nicht genau.
„Erst mal mache ich meine Lehre fertig, diesen Monat habe ich sogar eine Gehaltserhöhung bekommen!“ Das freut ihn, weil er seine Familie endlich besser unterstützen kann. Die Miete für ihr Haus und den Laden in der Freak Street ist nicht billig und seine Schwestern wollen schließlich auch irgendwann verheiratet werden. „Dann müssen wir erst mal einen indischen Ehemann finden, die Mitgift aufbringen, die Hochzeit bezahlen – das ganze Programm.“ Bijay selbst will aber lieber nicht heiraten: „Darauf habe ich keine Lust, Mädchen kann man doch nicht vertrauen.“ Von seinen nepalesischen Freunden höre er immer nur Geschichten über untreue Mädchen, die allen Jungen das Herz brächen. „Darauf habe ich keine Lust“, meint Bijay.
Als wir wieder in der Freak Street ankommen, sind die Ladenbesitzer schon dabei, die Gehwege hochzuklappen. Bijay kauft schnell noch etwas Schokolade, bevor sich auch das letzte Fenster schließt. Um meine Füße streicht eine einsame Katze, die mit laut miauend in das Geklingel der Tempelglocken einfällt. „Wenn du wieder kommst, dann zeige ich dir noch viel mehr. Die Seitenstraßen von Kathmandu sind wunderschön.“ Und Gujarat erst! Das ist natürlich eigentlich der schönste Ort auf der Welt. Trotzdem ist Bijay froh, in Kathmandu zu leben. „Die Großstadt ist nun mal einfach spannender.“ Auch wenn man weder Mädchen, Motorräder noch Bollywood-Filme mag.