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Anstandswauwau: Der Kerzenhalter unter den Stachelbeeren

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Katha Kloss

Turm zu BabelGesellschaft

„Was das Gesetz nicht verbietet, verbietet der Anstand“. So altbacken wie das Ovid-Zitat, scheint dem Bürger des 21. Jahrhunderts die Debatte über Sitte und Anstand. Aber einer hat‘s trotzdem überlebt – der Anstandswauwau. Und anderswo in Europa?

Wie jetzt Anstand? Moralische Grenzen sind heute ziemlich willkürlich. Was in der Aufklärungszeit die Zügelung des Hochmuts, der Selbstüberschätzung, des Egozentrismus und des Animalischen im Menschen war, so sagt‘s Wikipedia, ist heute längst Establishment und gehört zu den (manchmal sogar erwünschten) Charakteristika des Individuums unserer modernen Konsumgesellschaft.

Und trotzdem hat im Deutschen ein kleiner pelziger Sittenwächter in der Sprache überlebt: der Anstandswauwau. Er hat die Rolle der so genannten Anstandsdame übernommen, die bis ins tiefe 20. Jahrhundert hinein junge Frauen nervte, weil sie sich – quasi als fünftes Rad am Wagen - zu jungen Paaren gesellte, um den moralischen Aufpasser zu spielen. Und das nicht nur in deutschen Gefilden; auch in Polen terrorisiert die przyzwoitka (von Polnisch przyzwoity - anständig) junge Paare beim unverheirateten Stelldichein. 

Nichts also mit French Kiss und Ringelpiez mit Anfassen (wer schreibt den nächsten Turm zu Babel?), solange die Dame auf die Integrität ihres Schützlings achtete. Mit der Zeit wurde aus der deutschen Dame ironisch ein Wauwau – wie Kinder umgangssprachlich im Deutschen Hunde nennen – ein stummer Schnüffler, der das Revier bewacht – bis heute. Auch im Englischen wird aufgepasst, wenn was im Busch ist. Hier spielt der nervige Aufpasser sprichwörtlich die Stachelbeere (‚playing the gooseberry‘), was entweder auf die Farbe (Schamesröte) oder die Beschaffenheit der Beere (stachelig) zurückgeführt werden könnte.

EXCUSE ME?, fragt mein spanischer Kollege leicht irritiert, als ich nach einer Entsprechung in seiner Sprache frage. Aber auch in den romanischen Sprachen gab es das Pendant zur Anstandsdame – den so genannten ‚Kerzenhalter‘ (im Spanischen: sujetavelas). Franzosen (tenir la chandelle) und Italiener (fare la candela) halten ebenfalls Kerzen, frei nach der Tradition zu Beginn des 19. Jahrhunderts, wo Bedienstete während der „consommation“ eine Kerze halten mussten (mit dem Gesicht zur Wand - versteht sich), damit die Frischvermählten auch sehen, wo’s betttechnisch langgeht.

Eine andere Theorie besagt, man wollte sich nach dem Beischlaf versichern, dass die Auserwählte tatsächlich noch Jungfrau gewesen sei. Wofür dann wohl der italienische reggimoccolo (Taschentuchhalter) da war? Aus heutiger Sicht ein absoluter cockblocker: So nennen die Amerikaner den modernen Anstandswauwau.

Illustration: Teaserbild ©Henning Studte/studte-cartoon.de; Im Text (cc)Jesse Draper/flickr

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